"Homo" - ja, aber "sapiens" ?
"Ich bin kein Menschenfeind, (…) wiewohl ich eben nicht sagen kann, daß ich sie sehr liebenswürdig finde (…) Ich hasse das Übermaß in allen Dingen. Indessen gesteh ich, wenn ja auf einer von beiden Seiten ausgeschweift werden müßte, so würde die Wahrheit weniger verlieren, wenn man zu schlimm als wenn man zu gut von der menschlichen Natur dächte. (…) (…) Setzen wir einmal den Fall, es gäb eine Art von Geschöpfen (…), die mit einer so schlechten Anlage auf die Welt kämen, daß unter tausenden kaum Eines, und auch dies nicht anders als durch die sorgfältigste und mühsamste Kultur, unter einem Zusammenfluß der günstigsten Umstände, wovon nicht Einer fehlen dürfte, zu einem merklichen Grade von Wert zu bringen wäre: was würden wir von der ganzen Art halten? Würde die Art der Hyänen oder Krokodile darum besser sein, wenn man einige Beispiele hätte, daß durch außerordentliche Mühe und gutes Glück dann und wann eine Hyäne oder ein Krokodil zahm und nützlich gemacht worden wäre? (…) Wie viel Kunst und Fleiß, welche lange Übung, und wie viel Glück noch oben drein, wird nicht dazu erfordert, bis ein Mensch weise und gut wird! Und wie unendlich klein ist die Anzahl dieser letztern gegen das unermeßliche Heer der Narren, der Schafköpfe, der Gecken, der Betrüger, und der Bösewichter, deren ewiges Dichten und Trachten ist, alles zu verhindern, zu untergraben, zu ersticken, und, wo möglich, gänzlich zu vernichten und auszulöschen, was die Weisen und Guten von jeher unternommen haben! (…) Ich gebe zu, daß unter jener größern Zahl die Schafköpfe, die sich von den Schlauköpfen verführen, betrügen und mißbrauchen lassen daß es einen Stein erbarmen möchte, – daß, sag ich, diese Schafköpfe – die ganze Zunft der Gecken, Faselhansen und Narren mit allen ihren Subdivisionen eingerechnet – sich zu den Betrügern und Bösewichtern vielleicht wie Hundert zu Eins verhalten. Aber was gewinnt die menschliche Gattung dabei? Es braucht nur Einen schlauen Spitzbuben, um hundert dumme Knaben an eine lange Kette anzuschließen und bei der Nase hinzuführen wohin er will; und so sind es (zur Schande der Menschheit!) doch immer die schlimmsten unter den Menschen, die am Ende Meister sind. (…) (…) Die menschliche Gattung ist von der Natur mit allem versehen, was zum Wahrnehmen, Beobachten, Vergleichen und Unterscheiden der Dinge nötig ist. Sie hat zu diesen Verrichtungen nicht nur das Gegenwärtige unmittelbar vor sich liegen, und kann, um weise zu werden, nicht nur ihre eignen Erfahrungen nützen; auch die Erfahrungen aller vorher gehenden Zeiten, und die Bemerkungen einer Anzahl von scharfsinnigen Menschen, die, wenigstens sehr oft, richtig gesehen haben, liegen zu ihrem Gebrauch offen. Durch diese Erfahrungen und Bemerkungen ist schon längst ausgemacht, nach welchen Naturgesetzen der Mensch – in welcher Art von Gesellschaft und Verfassung er sich befinde – leben und handeln muß, um in seiner Art glücklich zu sein. Durch sie ist alles, was für die ganze Gattung – folglich für jeden einzelnen Menschen – zu allen Zeiten und unter allen Umständen nützlich oder schädlich ist, unwidersprechlich dargetan; die Regeln, deren Anwendung uns vor Irrtümern und Trugschlüssen sicher stellen kann, sind gefunden; wir können mit befriedigender Gewißheit wissen, was schön oder häßlich, recht oder unrecht, gut oder böse ist, warum es so ist, und in wie fern es so ist; es ist keine Art von Torheit, Laster und Bosheit zu erdenken, deren Ungereimtheit oder Schädlichkeit nicht schon längst so scharf als irgend ein Lehrsatz im Euklides erwiesen wäre. – Und dennoch, dessen allen ungeachtet, drehen sich die Menschen seit etlichen tausend Jahren immer in dem nämlichen Zirkel von Torheiten, Irrtümern und Mißbräuchen herum; werden weder durch fremde noch eigene Erfahrung klüger; verlassen immer wieder, ihrem eignen Gefühl zu Trotz, den richtigen Weg, wenn sie ihn glücklicher Weise einmal gefunden haben; kurz, werden, wenn's hoch kommt, witziger, scharfsinniger, gelehrter, aber nie weiser als ihre Vorfahren von jeher gewesen sind. (…) Die Menschen, nämlich, räsonieren gewöhnlich nicht nach den Gesetzen der Vernunft. – Im Gegenteil ihre angeborne und allgemeinste Art zu räsonieren ist: von einzelnen Fällen aufs Allgemeine zu schließen, aus flüchtig oder nur von Einer Seite wahrgenommenen Begebenheiten irrige Folgerungen herzuleiten, und alle Augenblicke Worte mit Begriffen, und Begriffe mit Sachen zu verwechseln. Die allermeisten, das ist, nach dem billigsten Überschlag neunhundertneunundneunzig unter tausenden, urteilen, in den meisten und wichtigsten Vorfallenheiten ihres Lebens, nach ersten sinnlichen Eindrücken, Vorurteilen, Leidenschaften, Grillen, Phantasien, Launen, zufälliger Verknüpfung der Worte und Vorstellungen in ihrem Gehirne, anscheinenden Ähnlichkeiten und geheimen Eingebungen der Parteilichkeit für sich selbst, um derentwillen sie alle Augenblicke ihren eignen Esel für ein Pferd und eines andern Mannes Pferd für einen Esel ansehen. Unter den besagten neunhundertneunundneunzig sind wenigstens neunhundert, die zu allem diesem nicht einmal ihre eigenen Organe brauchen, sondern aus unbegreiflicher Trägheit lieber durch fremde Augen falsch sehen, mit fremden Ohren übel hören, durch fremden Unverstand sich zu Narren machen lassen, als durch sich selbst vielleicht richtig empfinden wollen; nichts von einem beträchtlichen Teil dieser neunhundert zu sagen, die sich angewöhnt haben, von tausend Dingen in einem wichtigen Tone zu sprechen, ohne überhaupt zu wissen was sie sagen, und ohne sich einen Augenblick darum zu bekümmern, ob sie Sinn oder Unsinn sagen. (…) Eine Maschine, ein bloßes Werkzeug, das sich von fremden Händen brauchen und mißbrauchen lassen muß, ein Bund Stroh, das alle Augenblicke durch einen einzigen Funken in Flammen geraten kann, eine Flaumfeder, die sich von jedem Lüftchen nach einer andern Richtung treiben läßt, – sind wohl, seit die Welt steht, nie für Bilder, wodurch sich die Tätigkeit eines vernünftigen Wesens bezeichnen ließe, angesehen worden: wohl aber hat man sich von jeher dieser Bilder auf dem ganzen Erdboden bedient, um die Art und Weise auszudrücken, wie die Menschen, besonders wenn sie in große Massen zusammen gedrängt sind, sich zu bewegen und zu handeln pflegen. Nicht nur sind gewöhnlicher Weise Begier und Abscheu, Furcht und Hoffnung – von Sinnlichkeit und Einbildung in Bewegung gesetzt – die Triebräder aller der täglichen Handlungen, die nicht das Werk einer bloß maschinenmäßigen Gewohnheit sind; sondern in den meisten und angelegensten Fällen – gerade da, wo es um Glück oder Unglück des ganzen Lebens, Wohlstand oder Elend ganzer Völker – und am allermeisten, wo es um das Beste des ganzen menschlichen Geschlechts zu tun ist, – sind es fremde Leidenschaften oder Vorurteile, ist es der Druck oder Stoß weniger einzelner Hände, die geläufige Zunge eines einzigen Schwätzers, das wilde Feuer eines einzigen Schwärmers, der geheuchelte Eifer eines einzigen falschen Propheten, der Zuruf eines einzigen Verwegnen, der sich an die Spitze stellt – was Tausende und Hunderttausende in Bewegungen setzt, wovon sie weder die Richtung noch die Folgen sehen, was Staaten in Verwirrung bringt, Empörungen, Spaltungen und Bürgerkriege verursacht, Tempel, Altäre und Throne umstürzt, die Werkstätte der Natur und der Kunst verwüstet, und oft die Gestalt ganzer Weltteile verändert. (…) (…) Mit welchem Rechte kann eine Gattung von Geschöpfen, die nach der Vernunft weder denkt noch handelt, die durch fremde und eigene Erfahrung nie klüger wird, immer das Spiel ihrer Phantasien und Leidenschaften ist, immer von mechanischer Gewohnheit oder fremden Kräften in Bewegung gesetzt wird, immer wider ihr eignes Interesse handelt, immer wieder zerstört was sie aufgebaut hat, immer mit dem Steine, den sie den Berg hinauf gewälzt, wieder herunter fällt, um ihn von neuem hinauf zu wälzen, – mit welchem Rechte kann eine so unvernünftige Gattung von Geschöpfen ... (erst mal Luft holen)." aus: Christoph Martin Wieland - Geschichte des Weisen Danischmend und der drei Kalender / Arno Schmidt - Schwarze Spiegel Diese sehr zutreffende Beobachtung und Beschreibung der menschlichen Gattung ist jetzt in etwa 250 Jahre alt. Doch hat sich seither etwas verändert? Damals überschritt die Anzahl des "Homo sapiens" auf der Erde gerade die 1. Milliarde. Heute sind es über 8 Milliarden. Man könnte also meinen, dass sich die "Weisheit" der Menschen verachtfacht haben muß. Doch das ist mitnichten der Fall. Verachtfacht haben sich allenfalls Dummheit und Arroganz. "... und so sind es .." [nachwievor!] ".. doch immer die schlimmsten unter den Menschen, die am Ende Meister sind." |